Wo der Gletscher Geschichte schrieb
Eine Reise in die Eiszeit: Wie Gletscher das Inntal formten und wo heute noch ein Gletscherschliff besichtigt werden kann: in Fischbach am Inn.
Unterwegs mit unserer Autorin Franziska Consolati:
Während mir eiskalter Februarwind ins Gesicht peitscht, ziehe ich mir den Schal ins Gesicht. Es tobt, es graupelt, es fegt. Ich sehe kaum weiter als bis zur nächsten Baumreihe, die umliegenden Gipfel sind von der tiefen Wolkendecke verschluckt. Und ich? Ich bin mittendrin in diesem kalten Meer aus Grau. Und könnte zufriedener nicht sein. Denn wenn ich es mir recht überlege, dann passt das alles ganz gut zusammen – das raue, unfreundliche Wetter mit dem, was ich vorhabe:
Ich bin unterwegs zu einer Zeitreise.
Einer Reise in die Eiszeit, um genau zu sein. Und dafür könnte ich mir kein besseres Wetter vorstellen als einen so ungemütlichen Wintertag. Für diese Reise habe ich mir außerdem eine ganz besondere Landschaft ausgesucht: Es gibt nicht viele Orte, die so schöne Bilder aus der Vergangenheit zeichnen. Wir müssen diese Bilder nur zu deuten wissen, müssen die Landschaft lesen können. Dann erzählt sie uns ganz genau, was hier früher einmal passiert ist.
Das Inntal macht es uns leicht. Es ist ein Fenster in die Vergangenheit. Seine Landschaft erzählt überall und jederzeit, was hier vor vielen Jahrtausenden geschehen ist. Außerdem gibt es hier, dicht am Ufer des Inns, ein einzigartiges Geotop. Das gibt buchstäblich den Blick frei auf eine längst vergangene Naturgewalt, die sich lange vor unser Zeit ereignet hat.
Bereit für eine Zeitreise?
Stellen Sie sich vor, Sie fliegen in einer kleinen Propellermaschine über das Inntal. Unter Ihnen liegt das weiße Gipfelmeer der Alpen. Sie fliegen ganz dicht darüber. Allerdings schreiben wir die Eiszeit – dass es damals weder Menschen geschweige denn Propellermaschinen auf unserem Planeten gab, dürfen wir an dieser Stelle gerne außer Acht lassen.
Sie fliegen also während der Eiszeit über das Inntal. Das Einzige, was Sie von seinem Gipfelmeer zu sehen bekommen, sind kleine, weiße Spitzen, die aus einer Eisschicht lugen. Das Tal selbst, wie wir es heute kennen, liegt unter einem gewaltigen Gletscher verborgen. Der schimmert weiß und blau, ist ein tiefgefrorener Fluss aus meterdickem Eis. 80.000 Jahre ist es mittlerweile her, dass die Eiszeit den Alpenraum in eine Welt aus Schnee und Kälte verwandelt hat. Forschungen haben ergeben, dass sie ihren Höhepunkt erst Jahrtausende später erreicht hat: vor rund 25.000 Jahren. Das war die Zeit, als sich der riesige Inngletscher über die Landschaft gelegt hat. Die abgeflachte Gipfelkuppe des markanten Kranzhorns, das heute mit 1368 Höhenmetern über dem Inntal thront, hat damals nur als winzig kleiner Spitz aus dem dicken Eis geragt. In einer Maßeinheit, viel zu fein für unsere Augen, hat dieser gewaltige Gletscher seine Eis- und Geröllmassen immer weiter gen Flachland geschoben. Ein Prozess, der den Untergrund über Jahrtausende abgeschliffen hat. Das Eis ist wie ein Hobel, das Gestein unter seinem Gewicht ganz weich. Von dieser Zeit, von diesen Naturgewalten, erzählt das Inntal noch heute. Um in der Landschaft zu lesen, brauchen wir kein Propellerflugzeug: Von den felsigen Gipfeln von Kranzhorn, Wasserwand und Heuberg auf der einen sowie dem Petersberg und dem Wildbarren auf der gegenüberliegenden Seite können wir uns gut vorstellen, wie sich der Gletscher vor Tausenden von Jahren durch das Inntal geschoben hat: der Talboden rings um den Flusslauf wirkt wie plattgetrampelt. Flach wie ein Brett. Der Inn schlängelt sich durch seine Mitte, an den Seiten ragen wie aus dem Nichts die steilen Flanken der umliegenden Gipfel.
Aber das ist noch nicht alles, was uns von der Vergangenheit erzählt: Heute von Wiese, Acker und Geröll verborgen, befindet sich unter der Erde immer noch jenes Gestein, das der Gletscher beim Wandern abgeschliffen hat. An einer Stelle liegt es frei: Der Gletscherschliff von Flintsbach bildet dort ein einzigartiges Geotop, gibt den Blick frei in die längst vergangene Zeit. Auf den ersten Blick gleicht der Gletscherschliff einem meterhohen, imposanten Felsenhaufen, der auf 200 Metern Länge mitten im flachen Talboden nahe des Innufers auftaucht. Wer genau hinsieht, der erkennt noch heute die Schrammen und Furchen, die das Eis über Jahrtausende in den dunkelgrauen Wettersteinkalk geschliffen hat. Das Gestein hat keine einzige scharfe Kante, keine raue Seite, keine grobe Ecke. Es wirkt wie von Schmirgelpapier glatt geschliffen und ist bis heute so erhalten, wie das Eis die Felsen einst zurückgelassen hat. Dafür gibt es verschiedene Gründe: Einer ist, dass der Gletscherschliff bis vor Kurzem noch, wenn wir in der Zeitrechnung der Erdgeschichte bleiben, unter der Erde verborgen lag: Erst seit dem Bau der Inntal-Autobahn in den späten 60er Jahren liegt der Gletscherschliff großräumig frei und ist für die Öffentlichkeit zugänglich. Heute zählt er zu den am besten erhaltenen Spuren der sogenannten quartären Vereisung am nördlichen Alpenrand. Zu den Top 100 Geotopen Bayerns, den schönsten im Freistaat und zu den bedeutendsten in ganz Deutschland.
Was diese Auszeichnungen und Titel nicht beschreiben können, ist das Gefühl der Zeitreise, auf die uns der Gletscherschliff schickt. Obwohl auf der Inntal-Autobahn nebenan die moderne Welt dicht an uns vorbeifährt, driften wir in Gedanken in eine Vergangenheit, in der Autos und Straßen nicht existiert haben. Wenn wir die geschwungenen Linien im Gestein, seine spiegelglatte Oberfläche und die sanften Kurven betrachten, dann hören wir beinahe das Knarzen und Knacken des Gletschers, der sich hier seinen Weg ins Flachland gebahnt hat. Erwischen wir dann einen Tag wie diesen ungemütlichen im Februar, an dem die Nase taub vor Kälte ist und uns Graupel und Wind ins Gesicht schlagen, dann fühlen wir uns hier, am Gletscherschliff in Flintsbach, wie auf einer Reise in eine längst vergangene Zeit.
Der Weg zum Gletscherschliff
Der einfache Spaziergang führt über Forstwege zum Geotop. Start ist in Fischbach am Inn, geparkt werden kann beispielsweise am Bahnhof. Zur Tour