Alte Spinnerei in Kolbermoor
Eine Geschichte rund um die Entstehung der Baumwollspinnerei, der Stadtentwicklung Kolbermoor und den Imagegewinn durch das Industriedenkmal.
Eine Geschichte von unserer Autorin Andrea Strauß:
Das besondere Sonntagsbrunch? Sich mit Freunden abends auf einen Cocktail treffen? Das erste Date? An einem lauen Sommerabend am Kanal sitzen? Die etwas andere Location für eine Hochzeit oder ein Konzert? Dafür ist die Kolbermoorer Spinnerei genau richtig. Wenn es besonders nobel sein darf, dann leistet man sich eine Loftwohnung mit Bergblick auf der Spinnereiinsel oder man mietet sich in eines der modernen Büros ein. Das ehemalige Industriegelände der Baumwollspinnerei ist heute ein ausgesprochen hipper Treffpunkt geworden, die alte und neue Lebensader der Stadt.
Das war nicht immer so gewesen. „Was machen die jetzt eigentlich mit der Alten Spinnerei?“ Über Jahre hinweg war diese Frage für mich die kleine Erlösung aus einer Peinlichkeit: Gleich nachdem ich mich vorgestellt hatte und das Gespräch auf meinen neuen Wohnort Kolbermoor und den Beruf als Lehrerin gekommen war, entstand oft eine unerklärliche Gesprächspause. Es war so, als hätte ich behauptet, ich wäre Freigänger aus dem Strafvollzug. Wollte mein Gesprächspartner die Unterhaltung wieder auf neutralen Boden stellen, kam dann die Frage nach Kolbermoors bekanntestem Industriestandort. In den 90er Jahren ließ sich das für mich einfach und unverfänglich beantworten: Bauzaun. Man sieht noch nichts, aber es soll saniert werden.
Woher aber kam dieser kurze peinliche Augenblick? Warum nur? Lag es am Beruf? Aber junge Lehrer muss man doch nicht bemitleiden! Die schönen und sinnvollen Berufe sind nun mal anstrengend. Oder war es Kolbermoor? Kolbermoor war doch wunderbar. Perfekter Bahnanschluss, alle erdenklichen Einkaufsmöglichkeiten, die Nähe zu Rosenheim, der Blick auf die Berge, die Joggingstrecken am Kanal und an der Mangfall, nette Nachbarn, erträgliche Mietpreise ... Heute weiß ich, dass Kolbermoor das oberbayerische Ruhrgebiet war und die Spinnerei dessen Zentrum. Kolbermoor - das waren die anderen. Die nichts hatten. Die auch nichts zu verlieren hatten. Die Revoluzzer. Die Sozis und Kommunisten.
1857 war die Bayerische Maximiliansbahn mit dem Streckenabschnitt von München bis Rosenheim eröffnet worden. Wo heute die Stadt Kolbermoor steht, weideten damals noch die Kühe oder es wurde Torf gestochen. Das änderte sich aber rasend schnell. Die Bahnlinie machte das Gelände zusätzlich zur noch ungenutzten Wasserkraft der Mangfall attraktiv. Ein Jahr später hatte sich ein belgischer Investor einen Teil der Fläche gesichert, im Folgejahr hatte die Bahn mitten auf der Kuhweide einen Halt und wieder ein Jahr später wurde die Aktiengesellschaft Baumwollspinnerei gegründet.
Wo eben erst die Eisenbahnschienen verlegt worden waren, war sechs Jahre später ein bedeutender Industriestandort entstanden mit einem drei Kilometer langen Kanal an der Mangfall, der gemeinsam mit dem Fluss bis heute die sogenannte Spinnereiinsel einschließt. Für die Arbeiter in der brandneuen Spinnerei gab es sechs Gebäudeblöcke mit 36 Wohnungen. Es waren zwei Brücken gebaut worden, ein richtiger Bahnhof statt des Haltepunkts, eine Verbindungsstraße zwischen Bahnhof und Landstraße und das prächtige sechsstöckige Industriegebäude. Darin wurde an 11.000 Spindeln Baumwolle zu Garn verarbeitet, ein Jahr später hatte man die Spindelzahl fast vervierfacht. Die Spinnerei brachte den Fortschritt, brachte pulsierendes Leben, brachte Modernität.
Hand in Hand mit dem Bau der Spinnerei kamen auch die Arbeiter. Sie kamen aus dem Umland und aus Niederbayern, sie wurden bis aus Italien und Böhmen angeworben. Innerhalb von einer Generation verzehnfachte sich die Bevölkerung in Kolbermoor. Die Bauern der umliegenden Dörfer, die Handwerker und Bürgern aus Bad Aibling und Rosenheim standen den zugezogenen Arbeitern anfangs skeptisch gegenüber. Liebe auf den ersten Blick prägte die nachbarschaftlichen Beziehung nicht. Noch drei, vier Generationen später mahnten Eltern ihre Kinder zu ganz besonderer Vorsicht, wenn sich eine Fahrt nach Kolbermoor partout nicht vermeiden ließ. Wenn beim Jugendfußball etwa Kolbermoor das Heimspiel hatte. Für die Kolbermoorer aber verdichtet sich dies zu einem eigenen Gemeinschaftsgefühl: Wir Kolbermoorer halten zusammen!
Anfang der 1990er Jahre war der Betrieb in der Spinnerei nach 130 Jahren eingestellt worden. Baumwolle hatte längst Konkurrenz von anderen Produkten bekommen und dort, wo noch Garn gesponnen wird, nutzt man Standorte in Asien an größeren Flüssen und mit billigeren Arbeitern. Hinter dem Bauzaun lag der Betrieb nun im Dornröschenschlaf. Stille. Ein paar Fenster zugemauert, großflächig abgeblätterte Gebäudefarbe. Mal ein frisches Graffiti an einer der Mauern, mal ein eingeworfenes Fenster, mal ein Löwenzahn, der in einem Teerriss blühte. Als Fußgänger musste man auf die andere Straßenseite wechseln. Das Herz der Stadt stand still.
Inzwischen schlägt das Herz wieder: 2005 war Bewegung in den Standort Spinnerei gekommen, ein Investor hatte das Gelände gekauft. Ein Teil des Baubestands wurde abgerissen, erfreulich viel aber konnte saniert werden. Heute stehen diese Gebäude unter Denkmalschutz. Mein persönlicher Favorit ist der sogenannte „Neubau“ aus dem Jahr 1899, der Nachfolger des ersten, abgebrannten Spinnereigebäudes. Der Neubau ist heute ein hohes Industriegebäude direkt am Kanal mit strengen Formen, wunderschönen Ziegelaußenmauern, großen Fenstern und der alten Uhr hoch oben an der Ostfassade, die noch genauso aussieht wie auf den alten Bildern von vor hundert Jahren. Wenn man die Augen schließt, meint man, das Surren und Brummen aus der Spinnerei noch zu hören. Statt der Spindeln sind im Neubau nun moderne Büroflächen und Loftwohnungen untergebracht. Die ortsansässige Firma Quest Baukultur hat aus der Bauruine ein Schmuckstück gestaltet. Gemeinsam mit den ebenfalls restaurierten Gebäuden des ehemaligen Pförtnerhauses, des Garnmagazins und des Wasserkraftwerks der Spinnerei bildet der Neubau ein stimmiges Ensemble auf der Spinnereiinsel.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Kanals, also nicht mehr auf der Insel, aber immer noch auf dem einstigen Betriebsgelände, ist im ehemaligen Kessel- und Turbinenhaus ein großer Raum für Events entstanden, in dem der alte Originalkessel aber noch einen Platz hat. Auch der hohe, freistehende Rundkamin überragt noch immer das Gelände. Zu seinen Füßen blüht ein Rosengarten und ein fein konstruiertes modernes Zeltdach sorgt halb für Kuschelatmosphäre, halb für Sternenhimmel - für einen Sommerabend mit kühlem Getränk oder bei guter Musik einfach perfekt. In unmittelbarer Nähe zum Kanal mit dem Gebirgswasser der Mangfall wirkt das, als wäre man in Venedig oder der Hamburger Speicherstadt. Zusätzlich zum Kessel- und Turbinenhaus wurden auch das Ballenmagazin, ein Verwaltungsgebäude, das ehemalige Batteurgebäude und die Färberei erhalten.
Wo früher die Baumwollballen lagerten, Maschinen surrten und der Pförtner seinen Dienst tat, duftet es nun nach frisch gebackener Pizza. Es werden Kaffeespezialitäten ausgeschenkt und Torte wird geschlemmt. Mode wird verkauft, junge Künstler bekommen in der Akademie der Bildenden Künste ihren letzten Schliff und der eine oder andere Architektur-Interessierte möchte die preisgekrönte Sanierung der Industriedenkmäler und die neu entstandenen modernen Gebäude live sehen. Und wer sagen kann, dass er in Kolbermoor wohnt, wird jetzt höchstens neidvoll gefragt: „In der Alten Spinnerei?“