Die Herreninsel – Geschichte und G‘schichten
Erinnerungen rund um um das Königsschloss im Chiemsee und die Erklärung, warum bis heute die Insel so faszinierend für viele Einheimischen ist.
Erinnerungen zur Herreninsel von unserer Autorin Alexandra Burgmaier
Alles begann wohl mit einer Naturkatastrophe. Wie manche Wissenschaftler vermuten, hat ein Meteoriteneinschlag den gewaltigen Krater gebildet, der seit jeher als Auffangbecken für die umliegenden Alpenbäche dient und der heute den Namen Chiemsee trägt. Als „Hiesige“ fühle ich mich unserem „Bayerischen Meer“, wie wir den Chiemsee auf Grund seiner Größe von 80 Quadratkilometern getauft haben, stark verbunden. Um auf Reisen die Lage meines Heimatdorfes unkompliziert zu verorten, genügt ein Hinweis auf den Chiemsee und schon weiß alle Welt, wo man her ist.
Es gibt drei Inseln: Die mit 238 Hektar größte Landfläche bildet die Herreninsel. Die deutlich kleinere Fraueninsel ist mit dem Benediktinerinnenkloster Frauenwörth, ihren reizenden Geschäften und urigen Gastwirtschaften ebenfalls ein äußerst beliebter Besuchermagnet. Und dann gibt es da noch die gänzlich unbekannte und verwaiste Krautinsel, auf der in früheren Zeiten die Klosterschwestern Gemüse und Kräuter angebaut haben. Heute weidet auf der Insel das Vieh der rund um den Chiemsee ansässigen Bauern.
An meinen ersten Besuch der Herreninsel, ich war noch ein Grundschulkind, kann ich mich noch gut erinnern: Mit dem Raddampfer „Ludwig Fessler“, Flaggschiff der Chiemsee-Schifffahrt, starteten wir damals von Prien aus. Nach der aufregenden Überfahrt ging es mit der Kutsche romantisch weiter durch tiefe Wälder bis zur Schlossanlage Herrenchiemsee. Und dann sah ich es zum ersten Mal: Ein echtes Königsschloss, errichtet von einem echten „Märchenkönig“ und dem Bau eines „Sonnenkönigs“ nachempfunden – das machte großen Eindruck auf mich. Später erfuhr ich, dass die Vorlage für Herrenchiemsee die vielleicht bekannteste Schlossanlage der Welt war: Versailles in Frankreich.
Das Schloss liegt eingebettet in eine Gartenanlange, die mit gigantischen Brunnen, Wasserfontänen speienden Tierfiguren und symmetrischen, farblich perfekt abgestimmten Pflanzungen alle Kriterien erfüllt, die man an eine solche Anlage stellt. Direkt von der monumentalen Treppe aus hat man durch die langgezogene Schlosskanalschneise einen einzigartigen Blick auf den Chiemsee, der bis zum gegenüberliegenden Ufer des Hafenorts Prien reicht. Im Inneren des Märchenschlosses ist mir als Kind vor allem das „Tischlein deck dich“ in Erinnerung geblieben. König Ludwig II. war, wie Historiker belegt haben, kein geselliger Mensch. Seine Menschenscheu wuchs sich in den späten Lebensjahren zu einer extremen Zurückgezogenheit aus, die den empfindsamen König immer mehr in eigene Traumwelten flüchten ließ. Diese Entfremdung äußerte sich eben auch bei der Ausstattung des Schlosses durch einen versenkbaren Speisetisch, der es dem König gestattete, die Mahlzeiten ohne sichtbares Bedienungspersonal einnehmen zu können.
In der Studentenzeit war mein Geschichtsinteresse schon stark geweckt und so rückte auch das Schlossmuseum mehr und mehr in meinen Fokus. Mir wurde bewusst, dass die Insel seit der Eiszeit auf Menschen verschiedener Kulturen eine große Anziehungskraft hatte. In den letzten hundert Jahren fand man unzählige Spuren und Artefakte vergangener Zeiten: Von der Steinzeit über die Bronzezeit, die römische Antike und das Frühmittelalter bis in die Neuzeit waren immer Menschen auf der Herreninsel präsent.
Bei späteren Inselbesuchen gemeinsam mit meinem Mann fingen wir an auch die Reize der Insel selbst immer mehr zu schätzen. Und ich stellte fest, dass – nur wenige hundert Meter vom Schloss entfernt – fast verlassene Wege echtes Inselfeeling aufkommen lassen. Die Wanderwege sind gut ausgeschildert und belohnen den Spaziergänger mit tollen See- und Bergblicken. Eines der schönsten Ziele ist dabei „Ottos Ruh“, am südwestlichen Steilufer der Insel gelegen. Die Sitzbank des Rastplatzes, dessen Name an den ebenfalls sehr unglücklichen Bruder des Märchenkönigs erinnert, schlingt sich um einen mächtigen Baum und bietet einen abwechslungsreichen 360-Grad-Rundumblick. Nach einer Pause kann man durch einen prächtigen Buchenwald weiterwandern, vorbei an Douglasien, die von der Pazifikküste Nordamerikas stammen. So gelangt der Wanderer zu einer romantisch gelegenen Bucht, „Pauls Ruh“, wohl benannt nach Paul Fürst von Thurn und Taxis, dem Adjutanten Ludwigs II. Auch diese Stelle eignet sich bestens zum Ausruhen, Picknicken und sogar zum Baden.
Aber es gibt noch ältere Bauten auf der Herreninsel als das Schloss selbst. Das Kloster Herrenchiemsee wurde bereits im 7. Jahrhundert gegründet. Bis zum 19. Jahrhundert war die ganze Insel noch im Besitz dieses Klosters. Erst im Jahr 1873 erwarb König Ludwig II. für 350.000 Gulden die Insel von einem Konsortium württembergischer Holzspekulanten. Was für ein Glück: Durch den Kauf wurde die geplante Abholzung der Insel verhindert und so besitzt diese heute einen bemerkenswert alten Baumbestand, der in Teilen einem Urwald gleicht.
Genau wie das Schloss Versailles selbst immer wieder im Mittelpunkt der Geschichte stand, so rückte im Nachkriegsdeutschland auch die Herreninsel in das großgeschichtliche Bedeutungsfeld: Vom 10. bis 23. August 1948 hat der Verfassungskonvent den Entwurf für das heutige Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland auf der Herreninsel in den Räumen des früheren Augustiner-Chorherrenstift ausgearbeitet. Im Museum dort können Besucher heute mehr über dieses wichtige Kapitel der modernen Demokratie erfahren.
Auch für unsere Kinder war ein Familienausflug auf die Herreninsel immer ein besonderes Erlebnis. Neben der obligatorischen Schlossbesichtigung gibt es die Möglichkeit eine Fledermausstation, ein Wildgehege, begehbare Buchsbäume, Reste eines vor- und frühmittelalterlichen Ringwalls und vieles mehr zu erkunden. Als krönender Abschluss eines solchen Familientages empfehle ich eine Einkehr im Schlossrestaurant der Insel, das mit Biergarten, Cafébar und Panoramaseeblick zum Verweilen einlädt.
Beruflich als Journalistin habe ich vor Jahren den Inselförster kennengelernt, der als leitender Landschaftsgärtner für die Herreninsel zuständig ist. Durch ihn erfuhr ich noch vieles über diesen ungewöhnlichen Ort und wie faszinierend dieser Ort nach wie vor auch für ihn noch ist. Durch seine Erzählungen, er lebt mit seiner Frau und seinen Kindern das ganze Jahr über auf der Insel, konnte ich mich erstmals in diese besondere Lebenssituation einfühlen. Es leben ja nur eine Handvoll Menschen auf der Herreninsel. Wenn das letzte Schiff abgelegt hat, dann zieht hier eine unglaubliche Ruhe ein. Erlebt habe ich diesen Moment natürlich noch nie. Das ist etwas, das nur den „Insulanern“ vorbehalten bleibt.
Es ist wohl diese hier geschilderte Mischung aus eindrucksvoller Architektur, einzigartiger Natur und einer bedeutenden Historie, die die Herreninsel zu einem Sehnsuchtsort für viele macht. Ich bin gespannt, welche Entdeckungen diese Insel auch in späteren Lebensabschnitten für mich noch bereit hält.
- Alexandra Burgmaier -